5. Mai 2020 · 09:26
Vielleicht das einmal vorweg: Ich bin Schüler, Schüler in einer Tradition, die von Meistern geführt wird (habe lange überlegt, ob das das richtige Wort ist), die immer wieder von Gott und der Hingabe an Gott gesprochen haben.
Ich selbst habe erst durch sie mit dem Wort eine Art „Frieden“ geschlossen, der mich nachdenklich macht. Viele Menschen verwenden dieses Wort, Gott, mit dem ich an sich nichts anfangen kann. Wer über längere Zeit die menschliche Psyche studiert, ob im westlichen oder im östlichen Sinne, weiß, dass man und wie man über Gedanken und den mit ihnen verbündeten Gefühlen, schöpferisch tätig ist. Die Psyche ist in der Lage, Fakten zu schaffen, was bei genauer Betrachtung schon ein Widerspruch ist. Tatsachen, Fakten, die man sich erschafft – wie tatsächlich und faktisch sind die?
Unser Wort „Gott“ ist eine erstaunliche Schöpfung. Es gibt sie nur im germanischen Sprachraum, übrigens. Andere Sprachfamilien, die es in Europa gibt, verwenden einen Begriff, der dem Sanskritwort Deva nahesteht (Zeus, Deus, etc.), was so viel wie „leuchtend“, „erscheinend“, „strahlend“ bedeutet. Aber bei uns ist es ein Begriff „Gott“ offen, ziemlich undefiniert. Aber das ist doch nicht richtig, magst du denken. Es gibt hier einen Gottesbegriff! Aber den kann man sich zusammenreimen, aus Fakten und Meinungen (siehe oben), aus Gefühlen, interpretierten Erlebnissen, „tiefen“ Einsichten, etc.
Mein Meister sprach das mit den Worten an: „Die Frage ist doch, ob du Gott verehrst, wie er ist oder wie du meinst, dass er ist.“ Es muss schon spannend sein für jemanden, der aus dem indischen Kulturraum stammt, wo es kein Wort wie unser Wort „Gott“ gibt, sondern viele, sehr viele Arten, zu beschreiben, wie Kräfte wirken und erscheinen, die über unsere einfache Fünfsinnlichkeit hinausgehen. Auf einmal ist da nur noch ein Begriff, der noch dazu frei verwendet wird, mit Inhalten, die sich jede und jeder selbst erstellt.
Ein wenig ist es für westliche Menschen vermutlich wie Weihnachten für kleine Kinder: Mit großen, erstaunten Augen die ganzen Lichter und glänzenden Kugeln, die feierliche Stimmung, etc. zu erleben, sprachlos, fasziniert. Gott auf der einen Seite und unzählige herrliche Worte auf der anderen Seite. Und dann hat jemand, wie mein Meister, von seinem Meister den Auftrag erhalten, diese Tradition in den Westen zu bringen.
Am Anfang, als ich meinem Meister innen und außen begegnete, überhörte ich das Wort „Gott“ in seinen Vorträgen. Es gab ja auch so noch genug Neues, Unerhörtes, Faszinierendes für mich, als jemand, der einen westlich trainierten Verstand hatte. Eine Art Erleuchtung hatte ich, als ich bei einem Dialog zugegen sein konnte, den mein Meister mit einem französischem Priester hatte, der (ja, das gab es des Öfteren) unseren Ashram in Indien besucht hatte. Das war 1977, soweit ich mich erinnere. Es war eine liebevolle, respektvolle Begegnung. Beide saßen an einem Nachmittag zusammen, vor uns, und unterhielten sich, über Gott, Initiation, Erleuchtung, Befreiung. Auf einmal deutete der Priester auf einen der Mangobäume, die im Innenhof wuchsen und uns Schatten und Kühle boten, während wir zuhörten. „Du siehst also Gott überall, auch in diesem Baum, Swami?“ fragte er. Baba schüttelte den Kopf: „Nein, das tue ich nicht.“ Der Priester reagierte irritiert: „Aber ist das nicht deine Lehre, Gott in allem zu sehen?“ Mein Meister erwiderte: „Ich sehe Gott ALS den Baum.“
Die Lehre meines Meisters an uns war immer: „Gott wohnt in dir als DU.“ Da ich ja das Wort „Gott“ eher überhörte, wurde mir erst mit den Jahren klar, dass mein Meister mit dem Wort „Gott“ nichts von dem meinte, was ich so kannte. Er hob unerbittlich den Abgrund zwischen Gott und uns Menschen auf. Wirklich, unerbittlich. Genauso, wie meine Meisterin, die ihm nachfolgte, die sagt: „Am Ende wird sich herausstellen, das Gott in keinster Weise von dir zu unterscheiden ist.“
Immer wieder lese ich Texte von Menschen, die sich dem indischen Weg, Gott zu verehren und zu finden, verschrieben haben, die in der westlichen Kultur verheimatet sind, auch wenn sie sich indisch kleiden und mit sich mit Namaste und OM Shanti begrüßen (wird ja jetzt mit Corona vielleicht eine echte Alternative zum Händeschütteln oder Ellbogen- bzw. Fußkicks), sich die heiligen Zeichen auf die Stirne malen und Kajal um die Augen auftragen. Sie kleiden ihr Gottesverständnis aus mit westlichen Moralvorstellungen, so widersprüchlich sie auch sein mögen.
So richtig offensichtlich wird das, wenn Menschen aus dem Westen in eine Meister-Schüler-Beziehung eintreten oder eintreten wollen. Da sie sich selbst instinktiv ja nicht als Gott sehen können, der aus vielen, meist sehr weltlich-verständlichen Gründen weit, unendlich weit über uns Menschen steht, können sie sich nicht vorstellen, dass man einen Menschen, den Meister, als Gott verehren kann. Sie definieren sie/ihn (leider zwingt mich die deutsche Sprache zu dieser Differenzierung, die völlig illusorisch ist, wenn es um Meisterschaft im Yoga geht) als eine Art Mittler, oder Hilfestellung zwischen ihnen und Gott. Oder sie verfallen in eine Art spirituelles Fan-Groupie-Verhalten, bei dem sie ja nicht ihren Verstand einschalten sollen.
Und dann lehren diese Meister (so sie diese Bezeichnung überhaupt verdienen), „Die Worte „Gott“, „Selbst“, „ich“, „Guru“ sind nur von der Schreibweise unterschieden. Sie bedeuten genau das Gleiche.“ Jetzt wird es herausfordernd für viele. Und vielleicht überhören sie das auch, wie ich früher das Wort „Gott“ bei meinem Meister überhört habe.
Das ist schon in einem gewaltigen Widersproch zum „lieben Gott“, der gütig seine schwachen Lämmchen um sich schart, der liebevoll seine Menschlein bewacht und behütet (vor wem eigentlich), der Sünden großzügig vergibt, der seinen eigenen Sohn „opfert für die Sünden der Welt“. Und wenn die Wirklichkeit dieser Welt (gibt es die?) mit all ihren schrecklichen Alltäglichkeiten (siehe Corona, Ebola, etc.) so gar nicht auf einen gütigen Gott hindeuten, dann wird das genauso übersehen, überhört, nicht weiter bedacht, wie ich das tat, wenn mein Meister von „Gott“ sprach.
Da ist der Lösungsansatz, den mir einmal eine fundamentalistische (so bezeichnete sie sich selbst) Christin erklärt hatte, schon zielführend: „Wenn du zuviel denkst, kannst du nicht glauben. Und wer nicht glaubt, „goes to hell“, kommt in die Hölle.“ Sie war übrigens eine Wirtschaftsprofessorin, die überall in der Welt lehrte. Genauso einfach geht das. Und das gleiche Prinzip wenden Menschen gerne an, wenn es um Gott und Guru im indisch-yogischen Zusammenhang geht.
Aber in der yogischen Spiritualität, wenn man so einen Begriff überhaupt verwenden kann, ist die Grundlage aller Praxis, dass „sich am Ende herausstellen wird, dass Gott in keiner Weise von mir zu unterscheiden ist“. Wie kann ich, also ich, alt und hässlich, etc. was man da auch immer über einen selbst sagen möchte, Gott sein? Genau, da geht sie los, die so oft erwähnte Transformation: Meine Sicht auf mich, mein Verständnis über mich muss sich wandeln, wandeln können. Was bedeutet es, dass nur Shiva, nur Gott allein existiert? Auch in Kriegen, in Leiden, in Pandemien, in Eifersucht, Neid, in Liebe und Verlangen?
Ich vermute einmal, dass die meisten Menschen hier, auch die, die sich auf östliche spirituelle Wege begeben, diese Transformation nicht wollen, nicht wollen können. Viel zu viel ihrer Selbstdefinition müssten sie über Bord werfen (das habe ich jetzt sehr milde ausgedrückt, denn in Wirklichkeit müssen sie ganz und gar all diesen Unsinn, den sie für wahr hielten, aufgeben).
Wie mein Meister zu mir einmal sagte, als ich ihm eine dringliche Frage zu all den negativen Gefühlen stellte, an denen ich so litt: „Der, der jetzt fragt, geht am Ende sowieso verloren. Alles halb so wild.“ Also, verschließt eure Ohren nicht vor der Lehre, nur weil sie die Grundfesten deines Selbstverständnisses in Frage stellt. Mischt euch nicht eure eigenen Wege, wie an einem langen Selbstbedienungsbuffet. Wage dich in das Neuland der Selbstliebe.