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Einfach zur Klärung:

Du lebst heute im Westen in einer Welt, die weit vielfältiger ist, als die Welt noch vor 200 oder 300 Jahren. In seinem Buch „Simplify Your Life“ hat der Autor Lothar Seiwert einmal unsere Ist-Situation beschrieben: Er und seine Familie (Er, Frau und zwei Kinder) haben einmal zusammengezählt, was sie alles an „Dingen“ besitzen, Kleidungsstücke, Bürogegenstände, Möbel, etc. Sie kamen auf 80.000 Dinge. Vor 200 Jahren haben nur Menschen an der Spitze der Gesellschaft so viele Dinge besessen und hatten dann auch ca. 100 Bedienstete, um sich um all diese Sachen zu kümmern.

Ein Yogi lebte noch viel einfacher. Es besaß nichts oder nur wenig, und tat auch nicht so viel. Um all die Dinge zu erwerben, die einfach in unserem Leben mehr oder weniger dringend notwendig sind, weil wir uns daran so sehr gewöhnt haben, als Gesellschaft, müssen wir intensiv und viel arbeiten.

Warum schreibe ich das alles? Damit du dich in all deinem Stress und der unwillkürlichen Reaktion darauf besser fühlst? Nicht wirklich. Es geht mir nur um die Dimension des Yogawegs hier und heute. Mein Meister wurde einmal in Manhattan, New York City gefragt, ob man auch in New York meditieren kann (bei all den Ablenkungen). Seine Antwort war klar: „Nein“, sagte er, „du MUSST meditieren.“

Dein Alltag ist OHNE Yoga nicht zu bewältigen. Wobei ich das Wort „Yoga“ ja für einen Weg gebrauche, der das lehrt, was Yoga lehrt, und da mag es andere Wege geben, die das Gleiche empfehlen, die gleichen Übungen, das gleiche Verständnis, wenn auch vielleicht mit anderen Worten. Den ganz normalen Alltagswahnsinn zu ertragen, den wir hier in der „modernen“ Welt leben, schreit nach Yoga, nach der Anleitung, der Unterstützung durch einen Guru, verlangt nach einem Verständnis, das dir hilft, die enormen Wogen der Unruhe, die Menschen gemeinhin erleben, wenn sie so leben, wie wir das tun, wieder zu glätten.

Wenn es dir gelingt, in deinem Alltag inneren Frieden, Ruhe, Gleichmut zu erfahren und auch noch umzusetzen, ohne so zu tun als ob (was ich als „Doppelmoral“ bezeichne), dann hast du etwas erreicht, was Yogis in alten Zeiten nur nach vielen Jahren, viel Meditation, etc. erreicht haben. Unser Alltag ist eine viel größere Herausforderung, glaubt mir.

Ich sage das nicht, weil ich mich allzu gerne als Kulturkritiker aufspiele. Sondern ich möchte, dass du deine Situation richtig erfassen kannst, wenn du auf dem Yogaweg innere und äußere Hindernisse erlebst. Wenn dir das Mantra im normalen Tagesablauf einfällt und du es sogar bei deinen alltäglichen Erledigungen wiederholen kannst, wie weit schwieriger ist das, als wenn jemand das Mantra denkt, der sonst wirklich nicht viel Aufregendes im Leben zu tun hat.

Das, was man heute so als einfache Single in Frankfurt erlebt, an Lebensaufwand, das hatten in Indien vielleicht Mütter oder Väter großer, umfangreicher Familien zu bewerkstelligen. Das ist sicherlich auch der Grund, warum das Familienleben als schnellster Weg zu Erleuchtung angepriesen wurde. Jeder und jede von uns leben deutlich komplexer als die Menschen das zur Zeit Jnaneshwars taten. Ich habe großen Respekt für alle von euch, die diesen Weg gehen, im heutigen Alltag, der dir aus allen Zellen, aus allen Systemen, aus allen Gefühlen und Gedanken alles saugt, was nur geht.

Ja, ich weiß, du denkst, aber vamdev lehrt doch immer, dass das alles nur in mir stattfindet. Das ist so. Aber bis man das wirklich erkannt hat, fühlt es sich nicht so an, sondern eher wie oben beschrieben. Die Tatsache zu erkennen, dass das alles nur in dir stattfindet, ist die einzige Möglichkeit, hier heute bei uns ein Leben zu leben, das nicht nur ununterbrochenes Katastrophenmanagement ist.

Also, habt Geduld. Auch wenn du die Sanskritworte nicht so richtig hinbekommst, wenn du deine Meditation nicht schon um halb 5 Uhr beginnen kannst, wenn dein Tagesablauf keine Regelmäßigkeit zulässt, wie du meinst, dass du sie haben solltest auf diesem Weg: Mach dir klar, dass du auf einem Level anfängst, das es für die Yogis und Yoginis früherer Zeit nie gab, nicht einmal in ihren wildesten Vorstellungen.

Sei barmherzig zu deinem Verstand, zu deinen Gefühlen. Du versuchst einen fliegenden Fahrerwechsel bei Vollgas auf einer kurvigen Bergstraße. Das ist nicht einfach, das ist nicht eine Angelegenheit, die du einfach mal so angehst und erledigst.

Dein Geist schweift auch beim schönsten Höhepunkt deines Lieblingsmantragesangs ab? Echauffier dich nicht. Das Teil muss auf Höchstgeschwindigkeit laufen, ganz alltäglich, obwohl es nicht dafür gebaut wurde. Und jetzt soll er einfach einmal abschalten. Beruhige dich. Das dauert einfach. Und das ist gut so. Deine Gefühle wollen sich einfach nicht beruhigen, obwohl du das Mantra liebst, deinen Guru jeden Tag verehrst, alle Übungen machst, die du nur machen kannst. Denk doch mal über deine Situation nach: du fährst mal schnell zum Einkaufen, mit mindestens 10-facher natürlicher Fortbewegungsgeschwindigkeit, durch Gegenden und Orte, die du dir früher ergehen musstest, sozusagen. Dafür ist dein System geeicht, nicht für deine schnelle Erledigung im nächst gelegenen Supermarkt. Doch das ist für dich inzwischen so normal, wie früher für deine Urahnen der Gang über den Hof.

Also, gemach. Unser Weg heute ist natürlich im Prinzip der Gleiche. Aber die Ausgangssituation ist eine ganz, ganz andere. Verliere nicht den Mut, wenn die ersehnte innere Ausgeglichenheit noch nicht ständig auch die wildesten Brandungen deines Regelalltags übersteht. Verliere nicht dein Vertrauen in deinen Guru, nur weil das Gewusel deines Lebens dich immer wieder und regelmäßig daran erinnert, dass du noch mitten in deiner yogischen Entwicklung steckst, auch nach 10 oder 20 Jahren. Verliere nicht deine Liebe zu deinen Übungen, nur weil die Fluten deiner Aufgaben immer wieder deine Vorsätze durcheinanderbringen.

Der Weg wird sicher seine Früchte für dich ausschütten. Aber vielleicht ist eine Minute Gleichmut in deinem Leben so viel wie 10 Jahre völlige Gelassenheit für eine Yogini vor 500 Jahren. Und dann entspann dich, wenn nicht alles richtig yogisch für dich läuft.

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