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Gegensätze über Gegensätze!

DAS ist nicht so einfach zu verstehen: Diese Welt ist die Welt der Gegensätze. Ok, das geht ja noch, aber was das in seiner Tragweite bedeutet, ist manchmal erstaunlich und auch beängstigend. Menschen, die moralisch-ethisch bewundert werden, entpuppen sich als Kinderschänder, als Betrüger, als arrogante Menschenverächter. Mörder können sich vollständig wandeln und werden zu Erleuchteten. Unser Normalbewusstsein bäumt sich auf ob dieser Möglichkeiten, ist enttäuscht über die Täuschung der scheinbar Guten und ungläubig ob der Läuterung der Schlechten.

Das Gegenteil schwingt immer mit. DAS müsste man verstehen. Ein Moral predigender Pfarrer stirbt beim Sex mit einer Geliebten. Alle sind entrüstet, erschüttert, verunsichert, zweifeln an ihrer Religion und sogar an Gott. Ein Yogi, der sich selbst das Leben nimmt stürzt andere Yogis, die davon erfahren tiefste Sinnkrisen, schürt Gedanken ans Aufhören, lässt Zweifel am ganzen Yogaweg aufkommen. Menschen haben oft das Gefühl, dass es Güte ohne Schlechtigkeit geben muss, dass es Menschen geben MUSS, die nicht der Gegensätzlichkeit zum Opfer fallen. Wir hoffen das, erbeten das, erträumen das.

Aber diese Welt, sie ist und bleibt einfach diese Welt. Die Gesetze der Gegensätzlichkeit kümmern sich nicht um diese Hoffnungen und Erwartungen. Auch mir gibt das immer wieder sehr zu denken. Wenn ich so viel über Missverständnisse schreibe, wer sagt mir, dass ich damit nicht zur Quelle der Missverständnisse werde? Manchmal klagen YogalehrerInnen mir ihr Leid und sagen, dass sie so viele Zweifel an ihrer Lehrbefähigung haben. Das zu hören, erleichtert mich, und zwar für deren KursteilnehmerInnen. Denn ein Lehrer, der nicht erleuchtet ist, tut gut daran, immer wieder seine Befähigung in Frage zu stellen. Nicht, dass es ihn oder sie „menschlicher“ macht, sondern weil dieser Zweifel allzu große Arroganz nicht aufkommen lässt und eine Pseudo-Überlegenheit, die niemandem dient.

Gehen wir doch einfach einmal davon aus, dass alle Menschen in sich voller Widersprüche und Gegensätze sind. Aber Meister, magst du einwerfen, sollten doch JENSEITS dieser Widersprüche, oft in den Yogatexten dvandva genannt, leben. Damit meinen aber viele, dass sie sie NICHT in sich tragen. Aber jenseits von etwas zu sein, frei von etwas zu sein, kann nicht bedeuten, dass man, was auch immer das dann ist, nicht mehr hat, sondern dass man davon nicht mehr in seinem Erleben zu tiefst betroffen ist. Es bedeutet, dass man seine Persönlichkeit leben kann oder lebt, ohne sich auch nur im Geringsten damit zu identifizieren. Es bedeutet meiner Erfahrung nach, dass ein Meister, der zu recht als solcher bezeichnet werden kann, also der ernannt ist von seinem Meister, der nichts Neues erschafft, der seine Tradition vollständig kennt – etc. etc., nach wie vor seine zum Teil sehr skurrilen Persönlichkeitszüge hat, die auch erkennbar sind, die aber ganz anders wirken auf seinen SchülerInnen.

Seine Arroganz ist also nicht verletzend, seine Verachtung ist nicht verachtend, seine Wut ist nicht schmerzlich, seine Gefühlskälte ist nicht verwirrend. Ich könnte jetzt nur zu gut verstehen, wenn jemand von euch das liest, die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und ganz schnell diesen Blog wieder verlässt. All das sind Eigenschaften, die man selbst nicht haben möchte und die du vielleicht auch nicht in deinen Beziehungen mit anderen Menschen dulden würdest. Und trotzdem – ich schreibe das nicht als Anhänger, der seinem Meister alles „durchgehen“ lässt und alles entschuldigt.

Ich selbst habe all die Dinge, die ich beschrieben habe, selbst erlebt. Von außen betrachtet, war das zum Teil sehr problematisch, kann ich mir vorstellen. Aber was dabei in mir passierte, was etwas ganz anderes. Was soll ich schreiben? Es war immer eine große Unterstützung auf meinem Weg. Vielleicht denkst du jetzt, na, darauf kann ich gut verzichten. Mag sein.

Dann kann man auch sagen, die sind halt alle auch nur Menschen. Dieses „nur“ finde ich das Problem. Auf dem Yogaweg ist es von Bedeutung, ob es dir gelingt, dich jenseits deiner Persönlichkeit zu erfahren. Das ist nicht einfach zu begreifen, wenn man das als EINZIGE Selbsterfahrung hat: Persönlichkeit, Handeln, Denken, Fühlen. Von dieser Psyche Plus aus betrachtet, ist ein Verhalten wie oben geschildert, unmöglich. Aber alle haben das in sich. Ein erleuchtete Yogini kann damit umgehen, ist nicht gedrängt oder gezwungen, alle Seiten in sich selbst auszuleben. Sie kann, aber muss nicht. Diese Freiheit ist erstaunlich und für die meisten Menschen nicht vorstellbar, weil sie dabei einen Totalverlust ihrer Spontaneität befürchten. Die Yogaschriften behaupten, dass erst mit dieser Freiheit spontanes Leben möglich ist.

Das Ertragen der eigenen Widersprüchlichkeit, der eigenen Gegensätzlichkeit ist für viele Menschen auf dem geistigen Weg die größte Herausforderung. Oft können sie diese Seiten in sich nur verdrängen oder leben sie aus als wäre dieses Ausleben ein Ausdruck ihrer Freiheit. Das Ergebnis davon ist aber leider eine Art Versagen des emotionalen Schließmuskels, eine Art Gefühlsdurchfall, der immer unkontrollierbarer wird.

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